90 Jahre Poets, Essayists, Novelists: Geschichte und Zukunft

Heinrich Mann war 1934 der erste Präsident des PEN-Clubs deutschsprachiger Schriftsteller im Exil.
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16. September 2011
Wilfried F. Schoeller

Thomas Mann hat einst das Wort vom „Zwang zur Politik“ geprägt. Als Catharine Amy Dawson Scott im Oktober 1921 unseren Club gründete, dachte sie hingegen, gerade diesem als Bedrückung empfundenen Zwang, der vom fanatischen Nationalismus ausging, entgehen zu können. Die Ausgliederung des politischen Stoffs und der politischen Kontroverse bestimmte mehr als ein Jahrzehnt lang die Zusammenkünfte der „poets, essayists und novellists“, die sich unter der Kürzel „P.E.N.“ zusammen-fanden. Durch den Akt einer Reinigung vom Chauvinismus sollten das literarische Gespräch und die völkerverbindende Kommunikation wieder möglich, die Bedeutung des Geistigen in der zerrissenen Gesellschaft rekonstruiert werden. Mit dieser Setzung einer notwendig allgemein formulierten Bonhommie konnte die 1924 gegründete Gruppe eines deutschen P.E.N. in der Weimarer Republik nicht besonders wirksam werden. Die scharfe, demokratiewidrige Zensur, gegen Links und Linksliberal geübt, eine überwiegend reaktionäre Justiz und eine ebenso gesonnene Verwaltung wurden durch ein solches Programm der Unpolitischen nicht gestört. Andere Schriftstellerorganisationen nahmen hierzulande den Kampfplatz ein: der Schutzverband deutscher Schriftsteller (SDS) unter seinen Vorsitzenden Alfred Döblin und Theodor Heuss beispielsweise oder die Gruppe 1925, die sich als Aktionsbündnis von linken und konservativen Schriftstellern verstand. Doch gehörten dem deutschen P.E.N. am Ende der Weimarer Republik fast alle die kritischen Stimmen an, die sich früher, vor allem bei seinem Ersten Weltkongreß 1926 in Berlin, gegen ihn verwahrt hatten. Vorstand und Ausschuß des deutschen P.E.N. traten am 7. März 1933 zurück.

Gleichschaltung unter den Nazis

Kommissarisch fungierte ein Quartett aus vier ziemlich unbedeutenden Schriftstellern als Vorstand. Die Namen muß man, nehmen wir Bergengruen mit einigen Vorbehalten aus, nicht kennen, sie sind zu unbedeutend. Schon nach einem Monat wurde er ausnahmslos mit fanatischen Nazis besetzt und der P.E.N. damit gleichgeschaltet. Ein Augenzeuge schrieb, es sei zugegangen „wie bei einem Reserveoffiziersehrenrat“, der eine habe in Uniform „den Willen von Göring“ verkündet, ein anderer „den von Goebbels“. Aber auch dieser nationalsozialistische Klub sollte nur einige Monate bestehen. Seine moralische Niederlage erlitt er zwischen dem 20. und 24. Mai 1933 auf der internationalen P.E.N.-Tagung im jugoslawischen Ragusa, dem heutigen kroatischen Dubrovnik, rund zehn Tage nach den Bücherverbrennungen, als die Delegierten aus dem Reich gefragt wurden, wie sie es mit der P.E.N.-Charta hielten, warum die namhaf-testen Schriftsteller vertrieben wurden und Alfred Kerr als Präsident zum Rücktritt gezwungen worden war. H.G. Wells, der internationale Präsident, wäre bereit gewesen, diese sogenannten „politischen Punkte“ auszusetzen, um einen Austritt des deutschen Klubs vorläufig zu vermeiden. Inzwischen aber war Ernst Toller in Ragusa eingetroffen und seine bevorstehende Rede stand wie ein Menetekel über der Kungelei hinter den Kulissen. Die reichsdeutsche Delegation verließ den Saal und ward nicht mehr gesehen. Ernst Toller erzwang damals fast im Alleingang die Trennung. Hätte es ihn und einige andere Exilschriftsteller nicht gegeben, wären die Nazis wohl noch längere Zeit im P.E.N. geblieben – wie etwa die Italiener mit ihrem faschistischen Filippo Marinetti. Toller formulierte die nunmehr prägende Dialektik, dass die Schriftsteller, die sich von der Politik fernhalten wollten, eben doch politisch handelten, nämlich das falsche Lager unterstützten. Seit dem 15. Januar 1934 gab es den deutschen Club nicht mehr, denn an diesem Tag wurde eine „Union Nationaler Schriftsteller mit Hanns Johst an der Spitze und unter anderen mit Gottfried Benn als Mitglied des Gründungsausschusses einberufen, aber die einzige Organisation, die im Nazideutschland etwas zu sagen hatte, war die Reichsschrifttumskammer.

Neugründung im Exil

Kurz nach der Auflösung des Naziklubs betrieben einige wenige Exilautoren die Neugründung eines deutschen P:E:N: Lion Feuchtwanger, Ernst Toller, Max Herrmann Neisse warben um Mitglieder, das organisatorische Zentrum bildete der Publizist Rudolf Olden, der übrigens erst im vergangenen Jahr, sehr spät, durch eine Ausstellung in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main geehrt worden ist. Heinrich Mann übernahm die Präsidentschaft dieses „Deutschen P.E.N.Clubs im Exil.“ Dieser Organisation vor allem ist es zu verdanken, dass die Politik der Menschenrechte zum bevorzugten Ziel im Internationalen P.E.N. wurde. 

Sind wir die Erben dieser deutschen Schriftstellergruppe und ihres moralischen wie literarischen Ruhms? Ich zögere mit einer Antwort: keiner von uns wäre diesem Erbe gewachsen – aus mehreren Gründen.

Wer könnte im Ernst behaupten, er sei in die Spur beispielsweise von Georg Bernhard, Ernst Bloch, Bernard von Brentano, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Bruno Frank, Ödön von Horvath, Alfred Kerr, Hermann Kesten, Egon Erwin Kisch, , Leopold Schwarzschild, Anna Seghers, Ernst Toller, Theodor Wolff oder Arnold Zweig getreten? Und niemand kann behaupten, er habe in Europa  mit dem gleichen Hass und Auslöschungstrieb, mit einem ähnlichen Antisemitismus und Mörderinstinkt zu rechnen wie die Emigranten durch die Nationalsozialisten. 

Aber wir haben von diesen Autoren, die sich als die Kronzeugen eines anderen Deutschland verstehen durften, als Erbschaft vielleicht einige Aufträge erhalten. 

Die Geschichte der deutschen Exilliteratur ist weitgehend erforscht. Die Manuskriptschätze, soweit noch vorhanden, sind gesichert und durchgearbeitet, auch wenn an Forschung vor allem in New York und Jerusalem noch einiges zu tun wäre. Aber dank zweier Generationen von Literaturwissenschaftlern in beiden deutschen Staaten und in den USA ist ein Fundus erarbeitet. Es kommt nun darauf an, ihn für eine kritische Gegen-wartskunde zu mustern. Die Aufgabe heißt, dieses Erbe vergilbender Archivalien in seiner Signifikanz zu vergegenwärtigen und an den akuten Gegebenheiten zu messen.

Unzählige Menschen in allen Teilen dieser Erde, nach einer Uno-Schätzung 120 Millionen, sind heute auf der Flucht. Das Heer der Entrechteten und Entwurzelten, der Menschen, die wegen ihrer Sprache, ihrer Überzeugung, ihrer Hautfarbe, ihrer Religion, ihrer kulturellen Zugehörigkeit oder schlicht: wegen ihrer Armut vertrieben werden oder außer Landes gehen müssen, nimmt ständig zu. Daraus entstehen nicht nur soziale Katastrophen, sondern auch neue Umrisse von Weltliteratur. Sie wird verfasst von Leuten, die sich wie selbstverständlich am falschen Ort empfinden. Sie sind Experten der Zeitsprünge, der Untergänge von Lebenswelten. Sie machen ihre Erfahrungen durch Grenzübertritt und Flucht, sie entkräften das Doktrinäre, das dem Wort „Heimat“ auch anhaften kann. Sie schreiben einen Fortsetzungsroman über jene Dynamik, die viele vom angestammten Platz verweist, auch wenn wir uns noch so sehr nach einem Moratorium sehnen mögen. Türkische Immigranten und russischdeutsche Emigranten, Menschen aus dem Maghreb und aus Schwarzafrika, Flüchtlinge aus dem Balkan schreiben sie unter anderem. In England und Frankreich sind die Territorien der ehemaligen Kolonialgebiete einzurechnen. Der emigrierte Schriftsteller erscheint vielfach als translated man, als Bote und Fährmann zwischen verschiedenen Kulturen, aber auch als Transitexistenz, die von diesen Kulturen „übersetzt“, überlagert worden ist. Der Nobelpreisträger V.S. Naipaul wäre, wenn es so etwas gäbe, vielleicht ihr Sprecher: geboren auf Trinidad, indische Vorfahren, Studium in Oxford, britischer Romancier, Erkunder aller Fremden seiner verschlungenen Lebenswege.

Seismographen globalisierter Notlagen

Diese Literatur lässt sich nur noch notdürftig als Emigrationsliteratur bezeichnen, denn sie wird oft von Menschen geschrieben, die in dem Land, in dem ihre Vorfahren angekommen sind, geboren wurden und aufgewachsen sind. Im Grunde fehlt für diese Literatur die Terminologie. Aber an ihr sind noch immer jene Verfremdungen der Existenz zu ermitteln, die deutsche Exilanten erfahren haben. Zu diesen Seismographen heutiger globalisierter Notlagen könnten wir die deutschen Exilschriftsteller rechnen, nachdem wir sie seit den sechziger Jahren in ihrem historischen Kontext aufgesucht haben. Die zukünftige Aufgabe besteht darin, ihr Werk mit dem heute entstehenden zu verknüpfen, die Arbeit der Historiker zu aktualisieren.

Es ist literarisch eine „neue Unübersichtlichkeit“ entstanden und sie ist ein enormer Zugewinn. 

Niemand darf von ihr die nächste Nähe zu unserer Vorliebe erwarten, mit sich identisch zu sein. Sie bildet einen Raum des Nichtidentischen. Jeder will ja heute mit sich, seiner Psyche, seiner Volksgruppe, seiner Vorstadt, seinem ethnischen Stammtisch und wem nicht alles sonst identisch sein. Die Herausbildung transnationaler Strukturen in Wirtschaft, Politik und Verwaltung erzeugt den Gegenschlag: die Befriedigung der Sehnsucht nach Identität in irgendeinem fest bestimmten und gereinigten Raum, genannt „das Nationale“. Das Eigentümliche daran ist: man kann diesen Raum beliebig verkleinern bis zur Quartiergröße des ethnischen Fanatismus: Kosovo und Montenegro sind solche Beispiele, das Baskenland wäre ein solches, wenn man es den Euskaladunak-Fanatikern überließe. Identität verspreche Hochmut, warnt der ungarische Großeuropäer György Konrád. 

Dagegen die neue Art von Weltliteratur: Wir müssen als Leser einen Kursus in fremden Tonlagen absolvieren. Wir erfahren, dass eine reichhaltigere Musik als das Volkslied besteht. Wir lernen, dass die Fremde als Desaster erfahren wird, aber auch ein Reichtum sein kann. 

Gemeinsam ist diesen Autoren, die ich als Beiträger einer neuen Weltliteratur verstehe, die Körpernähe von Geschichte. Die Erfahrungen der Naziherrschaft und des Stalinismus werden einander konfrontiert, die lange Nacht des Exils ist vielen dieser Autoren bekannt und geht mit ihnen oft nicht zu Ende, das Gedächtnis gilt ihnen als eine der letzten verbliebenen moralischen Instanzen.

Das Erbe aktualisieren

Daraus entsteht ein neuer, übergreifender Text, in dem unser so schwer anzunehmendes Erbe aufleuchten könnte. Ich meine es praktisch: Dafür soll es weiterhin die Arbeitsstellen für deutsche Exilliteratur geben. Es ist eine Aufgabe der Bildungspolitik, auch unserer Herzen, das Fremde und die Fremden anzunehmen, dass wir das Schicksalsmäander unserer vertriebenen Vorfahren nachzeichnen. Vieles aus der Vergangenheit wird zum Prüfstein für das Jetzt. Ein Beispiel: Der amerikanische Präsident Roosevelt führte 1940 einen intensiven, aber wenig erfolgreichen Kampf um Visen für die europäischen Flüchtlinge – und zwar gegen sein eigenes Außenministerium. Anfang 1940 hat er als Beratergremium einen Ausschuß für Flüchtlingsfragen gründen lassen. Der empfahl nach einigen Monaten 567 Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle zur Aufnahme in die USA, doch willigte das State Department bis Oktober 1940 erst in 40 Visa ein. Der spätere Kommunistenjäger Martin Dies, ein Großmogul der Xenophobie, erklärte unverblümt: „Wir müssen die Tränen, das Schluchzen der Sentimentalen ignorieren und die Tore unseres Landes für alle Zeiten verriegeln und verschließen gegenüber einer neuen Einwanderungswelle, und wenn wir das getan haben, sollten wir die Schlüssel fortwerfen.“ Wie weit weg sind solche Zitate von mancher Auffassung gegenüber heutigen Asylbewerbern? Jeder sollte sich das fragen. Die Geschichte ist das Spiegelkabinett unserer Gegenwart.

Ein großer Anfang ist gemacht. Der deutsche P.E.N. verfügt seit mehr als einem Jahrzehnt über ein ordentlich ausgestattetes Programm zur Aufnahme von Exilautoren im heutigen Deutschland. Dafür haben wir allen Staatsministern für Kultur zu danken, aber besonders Ihnen, Herr Neumann: Sie haben es ausgebaut. Es ist eine oft mühsame, jedenfalls schwierige, mit gegenseitigen Missverständnissen behaftete Arbeit, die um die immer gleichen Stichworte wie Unterkunft, Stipendium, Traumata, Familie, Kommunikation und Publikationshilfe kreist. Jeder Fall ist anders, aber wenn die Lösung auf einige Jahre der Eingewöhnung und des Übergangs gelingt, leuchtet eben dieser Einzelfall in seiner Beispielskraft auf.

Bei der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt wird erwogen, die  Bestände des Exilarchivs mit Erfahrungen von Flucht, Exil und Vertreibung von Autoren und Künstlern in anderen Ländern zu verknüpfen. Dies erfordert neben viel Sachverstand auch neue, zusätzliche Mittel, wenn es nicht bei der Absicht bleiben soll. Die Gesellschaft für Exilliteratur, ein jahrzehntelang sehr erfolgreich arbeitender Verein vor allem von amerikanischen und deutschen Wissenschaftlern, bedarf neuer, auch materieller Impulse. Wenn das geplante Vertreibungszentrum in Berlin nicht nur ein deutsches werden, sondern ein europäisches Format haben soll, muss in ihm mindestens jüdische, polnische, ukrainische, weißrussische Geschichte der Überwältigungen, Fluchten, Rettungen und Untergänge auch versammelt werden. Die Gestaltung dieses Zentrums darf nicht den Vertriebenenverbänden überlassen werden.

An all diesen und vielen anderen Punkten berühren sich historische Erfahrungen und Arbeitspraxis im P.E.N., die in der Ausstellung von Sven Hanuschek auftauchen, mit gegenwärtigen Problemen. Wir entkommen unseren Vorfahren nicht. Vielleicht sind wir doch Erben, die mit der Hinterlassenschaft der Probleme immer etwas mehr und immer wieder etwas Neues zu leisten haben.

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